Im Club der Mumeltiere, von Kym Erdmann, Text-Datei speichern
Murmeltiertag in Punxsutawney, Pennsylvania, Wetterhauptstadt der Welt

Die Mutter von Journalist und Groundhog Club Mitglied William Anderson hebt schüchtern ihren Daumen. Auf meine Frage, wie oft sie schon am 2. Februar bei Sonnenaufgang hier am »Gobblers Knob« war, meint sie nicht das OK-Zeichen. Sie meint die Eins. Nur einmal in ihrem 82-jährigen Leben hörte sie die »Weissagungen einer Ratte«. Auf einem kleinen Hügel, drei Meilen außerhalb der Stadt mit Kiefernwäldchen im Hintergrund und einer hölzernen Bühne, findet jedes Jahr der Murmeltier Tag statt. Der Ort Punxsutawney identifiziert sich vollkommen mit diesem Tag. Alle Einwohner sind stolz auf ihre Geschichte, mindestens die Hälfte aller Geschäfte trägt das Murmeltier in Anzeigen und Firmenzeichen zur Schau. Sogar auf Polizei- und Feuerwehruniformen findet sich der niedliche Nager. Für kleine Unternehmen ist dies geschäftlich von Vorteil, sogar der finnische Vodkahersteller »Absolut« hat in der Lokalzeitung ganzseitig annonciert – »Absolut Punxsutawney« – eine Vodkaflasche im Schnee, deren Schatten die Form eines Murmeltieres hat. Nach der Legende kommt der Frühling, wenn Phil, das Murmeltier, seinen Schatten nicht sieht, wenn er ihn aber doch sieht, der Himmel also klar und die Temperaturen niedrig sind, prophezeit er weitere sechs Wochen Winter. Phil liegt mit 60 Prozent richtigen Vorhersagen allemal besser als moderne Wettercomputer. Auf 113 Jahre Murmeltier-Vorhersage kam nur 13 Mal Frühling. Und das Gros dieser Frühlingsankündigungen fiel auf die letzten 20 Jahre. Es scheint, der gute Phil spürt die globale Erwärmung.

Ich sondiere die Bühne. Ein riesiges Abbild vom geliebten Höhlenbewohner, über dessen mögliches Alter nicht diskutiert wird, ragt zwischen den Bäumen in den Himmel. Harry »Butch« Philliber vom Groundhog Club schenkt mir einen hölzernen Glücks-Penny, während ich die Montage von neuen Türen an Phils Ahorn-Baumstumpf beobachte. Fünf Tage vor dem großen Ereignis bin ich hier eingetroffen – im Country Villa Motel. Das Motel ist günstig, die Zimmer irgendwie urig, Teppich klebt an den Wänden, Fernseher und Telefone sind von vorgestern. Neben der Tür hängt ein amerikanischer Kalender. Ich schaue auf den 2. Februar: Groundhog Day ist eingetragen, jedoch nicht als Feiertag. Diesmal an einem Dienstag, einem weekday, werden deutlich weniger Besucher erwartet. Im letzten Jahr waren es 22000 (davor 35000) Leute, die Phils Vorhersage live erlebt haben.

Der Himmel ist strahlend, das Eis schon geschmolzen. Noch in der letzten Woche war hier eine Eis- und Schneekatastrophe. Ich treffe mich mit William Anderson: General Manager der lokalen Tageszeitung »The Punxsutawney Spirit«. Er schenkt mir sein Buch über die Geschichte des Ortes und seines berühmtesten Einwohners. Bill ist überrascht, jemandem aus Deutschland zu begegnen. Er ist erfreut, daß ich nur für diesen Tag, der ursprünglich von Deutschen begründet wurde, nach Amerika gekommen bin. Noch heute leben mehr deutschstämmige Amerikaner in Pennsylvania als in jedem anderen Bundesstaat. Ein Sonderausweis, den Bill auf meinen Namen ausstellt, wird mich autorisieren am Groundhog Day ganz nach vorne direkt in den »Inner Circle« zu gelangen. Dort ist auch das Fernsehen mit sieben Stationen, 14 Radiostationen sind in kleinen Boxen hinter den Zuschauern untergebracht. Ein nationales Ereignis – Live-Berichterstattung für jeden Sender eine Verpflichtung. Noch fehlen deutsche Teams, aber RTL wird sich irgendwann bequemen – denke ich.

Seit 1993 der Film »Und täglich grüßt das Murmeltier« den Ort in aller Welt bekannt gemacht hat, steigen die Besucherzahlen stetig. Mehrfach wurde die Bühne vergrößert, stärkere Lautsprecher und mehr Equipment angeschafft. Coca Cola soll Millionen Dollar für ein Sponsoring geboten haben. Doch die Herren des Groundhog Club haben abgelehnt. Zu sehr würde die Kommerzialisierung dem Geist des Festivals schaden. Im Land USA schon ein seltener Entschluß.

Trotzdem wird intensiv Merchandising betrieben (www.punxsutawney.com). Phil ist überall: Kappen, T-Shirts, Tassen, Plakate, Stoffmonster. Die Souvenirs bestimmen das Bild der Läden, nicht selten wandert zwischen Tapetenrollen und Schraubenschlüsseln mal ein Stapel Groundhog-Kekse über das Fließband eines Werkzeuggeschäftes.

Die 6700-Einwohner-Gemeinde Punxsutawney liegt nordöstlich der Staatenhauptstadt Pittsburgh direkt an der Route 119 im Jefferson County, mit dem Auto in zwei Stunden zu erreichen. Die Stadt hat ihren Namen aus dem indianischen, was »Stadt der Sandfliegen« (ponksad-uteney) bedeutet und war später groß in Kohle und Eisenbahn. Es gibt viele schöne Häuser, 30 Kirchen, ein McDonalds mitten im Zentrum, letzteres immer gut besucht. Europäer glauben oft gar nicht, daß es den Ort wirklich gibt. Der Name der Stadt kommt ihnen aberwitzig vor.

Im dem 30 Millionen Dollar teuren Hollywood Film erlebt der Wettermann Phil Conners »Ich mache das Wetter!«, gespielt von Bill Murray, ein und denselben Tag immer und immer wieder. Und es ist eben dieser Murmeltier Tag, den die Filmleute mit viel Liebe zum Detail nachgestellt haben. Zur Zufriedenheit des »wichtigsten» Präsidenten der Welt: dem vom Punxsutawney Groundhog Club William Cooper und seinen 14 Getreuen. Die Männer mit den schwarzen Zylindern, die Phils murmeltierianisch gesprochene Botschaft an das gemeine Volk weitergeben, erwecken den Eindruck, nicht von dieser Welt zu sein. In einer von den modernen Medien bestimmten Gesellschaft scheint ein Club, den es schon im letzten Jahrhundert gab, und der ursprünglich erst aus der Jagd nach Murmeltieren entstand, antiquiert zu sein. Keineswegs! Die Riege der 15 erlauchten Herren mag über den plötzlichen Zuschaueransturm nach dem Kinofilm überrascht gewesen sein, doch das hat man längst kompensiert. Heute ist man stolz, all die Jahre zuvor ohne Rummel die Prozedur durchgehalten zu haben. Denn im Grunde gab es immer Begeisterte wie den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, der Clubmitglieder anläßlich des hundertsten Jubiläums 1986 ins Weiße Haus einlud. Leider ließ Reagan Murmeltier Phil nicht hinein.

Der »Seher aller Seher« hat sein Zuhause im Groundhog Zoo, Teil der örtlichen Bücherei und nicht mehr als ein kleiner Raum, den er mit einer Gefährtin teilt. Von hier aus sind es nur ein paar Schritte ins Stadtzentrum. Auf der Mahoning Street gibt es die meisten Geschäfte. Das sind nicht viele, so geht man schon mal irgendwo hinein. Die Besitzer erzählen von ihrem beruflichen Alltag, davon, daß die Stadt eher ein ruhiger Fleck auf der Karte ist. Es herrscht Landflucht, erfahre ich. Die Jungen gehen weg, nach Pittsburgh oder noch weiter. Nur die verrückten Touristen haben entdeckt, daß sich der Ort auch zum Heiraten lohnt. So wie Jane Acton aus New York und Hyun-Ha Chung aus Seoul, Süd Korea. Die stehen heute im »Punxsutawney Spirit«.

Jeden Tag ist der Souvenir-Shop voller Menschen, das kleine Heimatmuseum hat mehr Besucher als in jeder anderen Woche des Jahres, sogar Golf wird gespielt, dekorativ mit hölzerner Skulptur von Phil mitten auf dem Fairway. Der »Spirit« hat jetzt Phil jeden Tag auf der Titelseite. Dort ein früher Auftritt, hier ein Interview.

Am Abend muß ich jedoch für einen Augenblick umschalten: Super Bowl – das amerikanische Sportereignis flimmert über die Bildschirme – die ganze Nation davor. Denver Broncos gegen Atlanta Falcons. An der Bar des Punxsutawney Hotel gehen die Meinungen auseinander, doch die Broncos gewinnen überlegen 34:19, besonders durch den überragenden Quaterback John Elway. Atlantas Anhänger verstummen und interessieren sich mehr für ihr Light-Bier. Von dem wird man auch betrunken, doch niemand würde zu Fuß nach Hause gehen - viel zu gefährlich. »Da wird man noch überfahren!«, höre ich.

Es ist kühl, die ersten haben sich um zwei Uhr in der Nacht eingefunden, es gibt große Parkplätze, Lagerfeuer und Stroh auf dem weichen Boden. Lange Schatten ziehen sich durch den kleinen Wald, von Flutlicht grell erleuchtet sieht der Platz wie eine Ufo-Absturzstelle bei »Akte X« aus. Im Hintergrund stehen die Übertragungswagen mit Satellitenschüsseln auf den Dächern. Viele junge Leute treiben sich rum, Chris Lash auch Groundhog Club Mitglied und Phils »proclaimer« , was man mit »Marktschreier« übersetzen könnte, hält das Publikum in seinem Bann. Immer mehr Menschen tanzen zur fetzigen Musik, nur regelmäßig unterbrochen vom Countdown und der Ansage, ob es immer noch so kalt ist wie vor zehn Minuten. Das Ausharren und Frieren in der Kälte ist wohl obligatorisch, ein Muß. Die letzten Minuten Dunkelheit werden für ein Feuerwerk genutzt. Atemraubend, die Farben und den Rauch zwischen den Bäumen zu sehen. Fast 15000 Leute recken ihre Hälse. Nur noch wenige Minuten bis zum Sonnenaufgang. Zum Aufmarsch der Mitglieder des Groundhog Club erklingt klassische Musik. Wie bei einer Boxveranstaltung stellt ein Sprecher jedes Mitglied vor, den Namen in die Länge gezogen, lautstark und bedeutungsvoll. Dank meines Ausweises bahne ich mir den Weg nach vorn. Eine Schülerin singt die amerikanische Hymne, sie singt gut, doch der Applaus der patriotischen Menge gilt auch sich selbst.

Genau um 7.23 Uhr und 21 Sekunden »befreit» William Deeley Phil aus seinem Baumstumpf. Tatsächlich hat er die ganze Nacht dort zugebracht. Zum Schutz vor möglichen Attacken trägt William Deeley »Phils Vertrauter« Schutzhandschuhe aus gewebtem Metall. Doch die »Bestie« ist ganz ruhig und läßt sich mühelos zu einem Gespräch unter sechs Augen überreden. Präsident Bill Cooper und William Deeley hören dem »Weissager aller Weissager« aufmerksam zu, bis sie seine Prognose verkünden können. Dr. Paul Johnston liest:

Like you President Bill
Since I have been on this hill
I have never lied and never will
So listen carefully to what I say
On this year before Y2K
Dark clouds fill the sky
So there's no shadow nearby
You will shout and birds will sing
I predict an early spring

Wie du Präsident Bill
Seit ich auf diesem Hügel bin
Keine Lüge über meine Lippen ging
Nun höre mir zu und sei nicht verwundert
In diesem letzten Jahr von hundert
Dunkle Wolken decken den Himmel zu
Kein Schatten zu sehen, im Nu
Ihr werdet jubeln und die Vögel singen
Denn ich sehe einen frühen Frühling

Die Zuschauer jubeln, schwenken ihre mitgebrachten Schilder. Der Winter ist abgewendet. Auch wenn der Frühling nicht morgen beginnt, so ist er doch gleich um die Ecke. Es wird hell, der Himmel ist fahlgrau, oder sind es die trüben Augen? Alle Fernsehteams wollen ein persönliches Interview mit William Deeley und dem Murmeltier, 300 und mehr Zuschauer lassen sich mit Phil fotografieren – nach japanischem Vorbild aufgereiht und geduldig wartend. Manche Familien sind mit Baby da, und so wie bei einer Papstaudienz ist die Begegnung mit Phil ein erhebender Moment für sie. Das dauert und dauert. Aber Phil hat ja Zeit. Erst genau in einem Jahr, am 2.2.2000 muß er wieder zur Arbeit erscheinen.

That's it. Ich fahr' zurück, die Schuhe matschig. Ich hoffe ich kann später mal sagen: Ich war mehr als einmal in Punxsutawney.